500 km

11.12.2019

 

 

Du hast mich im Stich gelassen. Jawohl. Exakt so fühle ich mich. 

Dabei ist dies eine Lüge. Du hast mich nicht im Stich gelassen. 

Aber fast. 

 

Ich wollte nicht mit ansehen, wie du erstickst. Ich wollte nicht panisch auf deinen Rücken klopfen. Wollte nicht nachsehen, ob deine Zunge dich nicht mehr atmen lässt. Wollte nicht sehen, wie du blau und rot anläufst. 

Ich wollte deine Frau nicht anschreien, dass sie den Notarzt rufen soll. Wollte nicht überlegen, wie zur Hölle ich 120kg Masse von der Couch gehievt bekomme. Denn die wäre zu weich gewesen. Zu weich, als das ich dein Herz dort hätte wieder zum schlagen bekommen können. 

 

Verdammt noch eins, Pa! 

 

Als ich mit dem Notarzt telefonierte, da hörte ich dich brechen. Niemals hätte ich gedacht, dass ich mich mal über das Geräusch von hochgewürgtem wasweisichdenn so dermaßen freuen würde. Das dieses Geräusch mich vor Freude zum weinen bringen würde. 

 

 

 

Dich so zu sehen, das hat mich zerfetzt. 

Mein Innerstes sah aus, als ob man mir einen Stabmixer in die Eingeweide gehalten hätte. 

So fühlte es sich an. Nichts war mehr an seinem Platz und in mir nur noch Fetzen und Brei. 

Dazu keine Idee, wie ich mit dem in mir leben sollte. Keine. 

 

 

 

 

Dein Herz. 

 

Kaputt von deinem Leben. Deinem Lebenswandel. Deiner Unachtsamkeit. 

Vielleicht auch kaputt von der Sorge, die wir dir immer mal wieder bereiten. Vielleicht spielen auch zwei Scheidungen und eine Menge Verlust eine Rolle. 

Nichts genaues weiß man nicht. 

 

 

 

Routine. 

 

Dein Eingriff sollte reine Routine sein, Pa. 

Drei Bypässe sind kein Zuckerschlecken. Korrekt. 

Doch war es für die Ärzte als Routine geplant. 

Du hast es mir selber gesagt, sonst wäre ich niemals in Urlaub gefahren. 

 

 

 

Bitte setzen sie sich. 

 

Das sagte dein Arzt am Telefon zu mir. Der Arzt, den ich hätte niemals so zügig ans Telefon bekommen dürfen. 

Deine Bypässe seien erfolgreich gelegt worden. Aber. 

Aber.

Dein Körper habe einfach nicht mehr gewollt. Nicht gekonnt. 

Blutvergiftung? Lungenentzündung?

Er wüsste es nicht exakt zu sagen. 

 

In diesem Augenblick war ich vollkommen leer. Selbst Fetzen und Brei spürte ich nicht mehr. 

Alles um mich herum verschwamm binnen Sekunden. 

Alles in meinem Blickfeld wurde von Tränen durchzogen und mir fiel das Atmen schwer. 

 

Gekämpft hätte man um dich. 

Fast 6 Liter wasweissichdenn habe man in dich gepumpt. Dich unter sehr viel Aufwand stabilisiert. 

So stabil eine instabile Sache halt gerade sein könnte. 

Ja, ich sollte lieber zügig kommen. 

Nein, es sei nicht klar, ob du die Nacht überleben würdest. 

 

 

Du in Aachen. Ich in Hamburg. 

Gut 500km entfernt. 

 

 

500km sind eine Menge. Eine Menge Zeit. Eine Menge Geduld. Eine Menge Schmerz. Eine Menge Angst. 

500km. 

Voll mit Telefonaten. Freundin. Familie. Freunde. 

Ich wollte ihnen all das nicht erzählen müssen. Wieder und wieder. 

500km. 

Voll der Sorge anderer.

Um mich. Der Fahrerei wegen.

Um dich. Deines Zustands wegen. 

 

 

 

Aufzug B3. Etage 7. Station 720. Gang 20. 

 

Ich habe mich verlaufen. Früher oft in meinem Leben. Jetzt hier. In dieser Klinik. 

Wo zur Hölle bist du nur? Wo?!

 

 

Hier. 

 

Zwischen hier und mir steht jedoch noch diese Intensivschwester. Lieb. Nett. Bestimmt. 

Ja, du seist hier. Nein, ich dürfe nicht zu dir. 

Während meiner 500km habe meine Familie die Geduld aller überreizt. Telefonisch. Man wolle nicht noch einmal erklären, was bereits ausreichend erklärt worden sei. 

500km. 

Letztlich waren es vielleicht diese 500km. Vielleicht meine Tränen. Vielleicht mein Blick. Vielleicht Mitleid. 

 

 

Lass mich nicht im Stich. 

 

 

Dich dort liegen zu sehen, das hat mich gebrochen. Das warst nicht du. Niemals. 

NIEMALS. 

 

 

Doch sah die Person dort aus wie du. 

Rasierter. Mit frisch geschnittenen Haaren. 

Aber eben doch du. 

Anscheinend hast du dich wirklich fein gemacht. War das Anstand? War das aus Sorge geschehen, dass du es nicht schaffen könntest? 

Du blödes Arschloch solltest davon ausgehen, es zu schaffen! Nicht davon, dass du es nicht schaffst! Wie konntest du nur?! 

Sogar die Fingernägel hattest du dir frisch geschnitten. 

 

 

Dort lagst du nun. 

Mehr Schläuche und Geräte, als alles andere. 

 

 

Leer. Das trifft es am ehesten. Ich war leer. 

Nicht glücklich. Nicht wütend. Ich war in diesem Augenblick nichts. 

Und doch war dieser Augenblick einfach Alles. 

 

Dich so zu sehen. Das hat mich verändert. 

Dich so zu sehen. Das hat mir etwas genommen. 

Dich so zu sehen.

 

 

Dein Arzt kam zu mir. Er erklärte mir deine Situation. Viel zu viel erklärte er. 

Wäre ich nicht leer gewesen, so hätte ich die Flut an Informationen nicht fassen können. 

Er redete von deiner Lungenkrankheit. Von deiner körperlichen Verfassung. Von dem, wie du dich über Jahre zugerichtet hast. 

Er redete über deine OP. Über das, was gerade mit dir geschah. 

Deine Lunge wolle nicht mehr. Könne gerade nicht mehr. Atmen. Dies müsse bis auf weiteres diese Maschine für dich übernehmen. 

Dein Herz. Eine Hälfte bereit zu kämpfen. Ein Hälfte... 

Im Prinzip warst du nicht mehr du.

Denn dein du konnte dich nicht mehr tragen.

Nicht mehr versorgen. 

 

 

Nun waren wir wieder alleine. Diese Variante deines Ich. Und eben ich. 

 

 

Mein ich hatte panische Angst. Dein ich war schweißgebadet und farblos. 

Mein ich musste dringend umarmt werden. Damit es nicht zerbricht. An dir. 

 

 

 

Die Umarmung bekam ich direkt auf dem Parkplatz. Meine Freundin. 

Ein guter Freund. 

Danke euch beiden. Ihr habt verhindert, dass ich Platze. 

 

 

 

Vorher aber hast du es schon ein bisschen verhindert. 

Ich musste dich einfach drücken. Deine Nähe spüren. 

Ich hätte es nicht ertragen, wenn ich dich nicht noch einmal hätte spüren dürfen. 

Als ich dein Zimmer verlassen habe. Da schmeckte es salzig. 

Ob meiner Tränen oder des Schweißes deines Kampfes wegen? Ich vermag es nicht zu beantworten. 

Salzig. 

 

 

 

Du hast schon so viel erlebt in deinen 70 Jahren. 

Du hast eine Familie gegründet. 

Du hast dreimal geheiratet. 

Du hast Häuser gebaut. 

Du hast Berge bestiegen. 

 

 

 

Es gibt unzählige Geschichten über dich zu erzählen. Von deinem besonderen Charme. Deinem derben Humor. Einfach von dir. 

 

Dabei ist die mir wichtigste eine sehr kurze. Trotzdem ist sie meine Lieblingsgeschichte:

 

 

Du bist wieder aufgewacht und lebst.