Der NEBEL

02.12.2018

 

 

 

Manchmal versuche ich mich zu erinnern, wie es vor dem Nebel war. 

 

Wie es war, ohne dieses dumpfe Gefühl. Das durch den Nebel zu mir dringt. Sich an mich schmiegt und mich einhüllt. Jede Ritze nutzt, um durch meine Kleidung zu dringen. Als wäre dieser Nebel auf nichts anderes aus, als mir nahe zu sein. 

 

Ich versuche mich daran zu erinnern, wie es war meine Umwelt komplett wahrnehmen zu können. Ich rede dabei nicht von der Erinnerung, an einen blauen Himmel. 

Mir würde es schon reichen, wenn ich mich erinnern könnte, wie das Gefühl ist einen unbekannten Menschen dort draussen rechtzeitig zu erkennen. 

Nicht ständig mit der Frage leben zu müssen, ob dieser Jemand mir gütig gestimmt ist. Ob er mir etwas Böses möchte. Ob ich die Straßenseite wechseln sollte. 

Wie es wohl wäre, wenn ich sein Gesicht sehen könnte? Seine Mimik? Seine Körpersprache? Das alles schon von Weitem und nicht erst, wenn dieser Jemand vor mir steht? Aber nichts davon ist mir möglich. Alles liegt im Nebel. 

 

Dieser Nebel....

 

Die Welt „davor“ ist  nur eine blasse Erinnerung, wenn sich dieser Nebel seit Jahren über dich legt. Wenn er überall dort draußen wabert. Wenn du nur an wenigen Plätzen vor ihm geschützt bist. 

 

Was ich jedoch nicht vergessen kann, ist die Zeit in der der Nebel das erste mal auftauchte. Jahre ist es her. 

Das war eine Zeit in meinem Leben, in der ich verzweifelt war. In der ich mit mir kämpfte. Um meinen Verstand. Um mein Leben. 

Da war keine Rationalität mehr. Da war kaum Hoffnung. Da war hauptsächlich nur Schmerz. Zweifel. Hass. Selbsthass. Unergründliche Trauer. Der Wunsch nach dem Ende. 

 

Ich erinnere mich leider an keine Details mehr. Aber es kam dieser Tag, an dem der Nebel auftauchte. 

Plötzlich war er da. Er irritierte mich nicht einmal, denn es war halt nur Nebel. Was wusste ich schon über das Wetter. Die Kombination aus Kälte und Nebel waren zwar eine Seltenheit in dieser großen Stadt, aber ich nahm es hin. 

Es tat mir sogar gut. Ohne dass ich einen Grund dafür nennen konnte. Es war, als ob sich dieser Nebel schützend um mich legte. 

Als ob es mir besser ginge, wenn ich nur noch wenige Meter Sicht vor mir wusste. 

 

Manchmal verschwand er für kurze Zeit. Diese Zeit verbrachte ich dann mit Freunden. Mit meiner Familie. 

Ich war glücklich in dieser Zeit und ich liebte den Nebel für sein Timing. Nie tauchte er auf, bevor ich wieder in meinen Alltag aufbrach. 

 

Beunruhigend wurde es für mich erst, als ich nach Wochen eine einfache Wahrheit verstand. Meine Mitmenschen sahen diesen Nebel nicht! 

Ich nahm an, sie wollten mich ärgern. Oder mich aufheitern. Gute Miene zu dieser außergewöhnlichen Wetterlage machen. 

Aber nein. Die Wahrheit war wirklich so simpel wie verwirrend. Für Sie existierte diese dichte Nebel nicht. Wo ich kaum zwei Meter Sicht hatte, sahen sie bis zum Horizont. 

 

Selten habe ich so sehr an meinem Verstand gezweifelt wie damals. Ich fragte mich, ob ich den Punkt überschritten hatte. Diesen schmalen Grad zwischen Realität und Wahnsinn. Diese Zweifel gab ich jedoch zügig auf. Fürs Erste. 

 

Auch wenn der Nebel nur für mich existierte. Auch wenn ich an mir zweifelte. Dieser Nebel gab mir eine lang ersehnte Sicherheit. Mein Alltag wurde erträglicher. Ich funktionierte. 

Vor lauter Begeisterung bekam ich nicht einmal die Veränderung mit. Die Veränderung meines Wesens. 

 

Menschen die mir nahe stehen beschreiben es bis heute meist als gottgegebene Gleichgültigkeit. Damit meinen Sie Eigenschaften, um die mich mancher zu beneiden scheint.  

 

Mich interessiert es fast nie, was jemand von mir hält. 

Ich gebe fast nichts auf die Meinung der Menschen, die mir nichts bedeuten. 

Ich gebe nicht viel auf Äußerlichkeiten. Weder auf meine, noch auf die der Anderen. 

Ich gehe offen auf Menschen zu. 

Ich bin kommunikativ. 

Ich löse Probleme fokussiert, rational und ohne so manches an mich ran zu lassen. 

Ich bin sehr frontal und geradeaus. 

 

 

Augenscheinlich sind das nicht die schlechtesten Eigenschaften. Was ich und auch der Rest der Leute damals übersehen haben, ist der Preis dessen!

Nichts gibt es im Leben umsonst. Nein. Wirklich nicht. 

 

Der Nebel ist wie eine Droge. Er gibt mir etwas, um mich etwas anderem zu berauben. 

 

Seitdem er da ist, hüllt er einen Teil von mir ein. So gut, dass es mir lange nicht aufgefallen ist. 

Vielleicht wollte ich es auch nicht begreifen. Denn der Gegenwert ist grandios. All diese Eigenschaften und Vorteile. Und doch ist es so. Er hat mir einen großen Teil meiner selbst genommen. Er hat mir meine „Mitte“ genommen. 

 

Da wo scheinbar jeder andere Mensch ein volles Spektrum an Gefühlen hat, da habe ich nur ein vergleichsweise kleines. 

Geblieben sind mir Glück und Zufriedenheit. Wenn sie wirklich stark ausgeprägt sind. 

Geblieben sind mir Trauer und Angst. Wenn sie wirklich stark ausgeprägt sind. 

 

Dazwischen gibt es fast nichts mehr. Nichts, was ich spüre. 

 

Auch das mag für viele Menschen sehr gut klingen. Nach etwas Erstrebenswerten. Aber ist es das wirklich?

Habt ihr euch mal gefragt, wie es für andere Menschen ist mich kennenzulernen? Wie soll mich jemand einschätzen, wenn da nichts ist, was ihm gewohnte Rückschlüsse lässt? Wie soll man mein Verhalten deuten? 

Was macht eine Person, die mich zum Beispiel in Gegenwart meiner Freunde kennengelernt hat? 

Dort war ich augenscheinlich komplett. Zufrieden. Glücklich. Offen. Beim nächsten Kontakt bin ich es vielleicht nicht mehr, weil ich im Nebel stehe. 

Wie oft schätzt man meine Art als Desinteresse ein? Wie oft stoße ich lieben Menschen vor den Kopf, ohne es zu merken?

 

 

Macht euch mal Gedanken, wie das für mich ist. 

 

 

Nach all diesen Jahren bin ich gut darin geworden. Darin, Zeichen zu sehen. Mimik zu lesen. Tonfälle zu deuten. Auf das Verhalten meines Gegenübers zu achten. 

Da merkt man oft nur kleine Unterschiede, insofern ich die Person gut kenne. 

 

Kenne ich die Person nicht, dann ist es ein großer Haufen Scheisse. Ich hänge völlig in der Luft und improvisiere. Oder ich wirke kalt und distanziert obwohl ich offen auf die Person zugehe und doch lächele. 

Oder das Gegenteil ist der Fall. Ich bin freundlich, höflich, interessiert und frontal. Weil ich ein Gespräch führen möchte. Mein Gegenüber hält dies aber für Flirten. 

 

Wollt ihr mal raten, wie interessant das ist, so einen Partner für sich zu finden? Oder den zu halten? 

Lernt doch mal jemanden kennen, der eure Flirterei nicht versteht. Oder an dem euer Versuch der nonverbalen Kommunikation völlig vorbei geht. Der nicht im Ansatz erkennen würde, wenn ihr auf den Schritt wartet, dass er euch küsst. 

Stellt euch mal vor, dass euch etwas sehr wichtig ist. Ihr dies in einer Beziehung versucht durch die Blume mitzuteilen und ich es nicht verstehe. 

 

Irgendwann kommt dann aber der Tag, wo die Person in meinem Herzen Einzug hält. Ab da verstehe ich dann plötzlich so vieles und mein Gegenüber kommt sich veräppelt vor. Als hätte ich ihn vorher absichtlich nicht verstanden. 

 

Tue mir dann mal richtig weh, vielleicht aus einem Missverständnis heraus und schau dir an, wie all dies Verstehen und Co. wieder verschwindet und lange weg bleibt. Bis es in meinem Herzen wieder den gleichen Platz für die Person gibt. 

 

Stellt euch vor wie es ist, wenn ich von jetzt auf gleich - ohne für euch verständlichen Grund - in ein tiefes, emotionales Loch falle. 

 

 

Ich hoffe aufrichtig, dass ihr nie in die Verlegenheit kommt, euch selber nicht mehr zu spüren. Ich korrigiere. Einen großen Teil von euch nicht mehr zu spüren. 

 

Ich erlebe es immer wieder, dass ich viel zu lange nicht bemerke, wenn etwas schief läuft. Oft über Wochen nicht. Und von jetzt auf gleich wird diese magische Grenze überschritten und ich falle in ein solches Loch. Das funktioniert auch in die andere Richtung, mit guten Gefühlen. 

 

Dieser Nebel....

 

Außenstehende nennen mich deswegen manchmal manisch depressiv. Man sagt mir ab und zu, ich habe narzisstischer Züge. Selbst Menschen die in meinem Herzen waren sagen und denken dies. 

Denn kaum einer versteht diesen Nebel. Kaum einer glaubt daran, dass er überhaupt existiert. Menschen denken sich, dass dies eine Ausrede für mein Verhalten sei. 

 

Dieser Nebel....

 

Nach all den Jahren des Nebels habe ich meine eigene Theorie zu ihm entwickelt. 

Er kam, als ich ihn am dringendsten brauchte. Er rettete mich. 

So wie eine abgespaltene Persönlichkeit ein Kind vor dem Grauen bewahrt, dass es durch Misshandlung erfährt. 

Eines Tages wird er auch wieder verschwinden, wenn mein Geist und Herz dazu bereit ist. 

 

Dieser Nebel.....