Der Ozean

ca. 2015

 

 

 

Ich bin ein verdammter Ozean. 

 

Ich bin das, was ihr von meiner Oberfläche seht. Das, was ihr sehen möchtet. 

Ich bin das, was ich euch zeige, wenn ihr mir Zeit und Interesse schenkt. 

Ich bin das, was ihr nur aus Reportagen kennt. Beheimate in mir, wovor ihr euch so sehr fürchtet. Das, was ihr hoffentlich niemals sehen und erleben werdet. 

 

 

Seitdem ich meine Depression aktiv angegangen bin, seit diesem Augenblick wurde ich zum Ozean. 

 

Recht bald wurde mir schmerzhaft bewusst, dass dies eine der wenigen, praktikablen Möglichkeiten ist. Eine der wenigen Möglichkeiten, Ruhe zu finden, ohne sich sozial komplett auszugrenzen. 

 

Denn das ist es doch, was die meisten Menschen sehen möchten, oder? 

Den Ozean. 

Die Version, von der ihr träumt. Den Sonnenschein. Das blaue Wasser. Die Wellen. Eben das gewohnte Bild. Diesen Mix zwischen Realität und der eigenen Wunschvorstellung. 

 

Also schaut ihr mich an und seht einen Mann in seinen Dreissigern. Ihr seht viel bunte Haut. Meinen Bart. Meine Kopfbedeckungen. Ihr seht, dass ich eher breit als schmächtig bin. Ihr seht einen Kerl, der wenig lächelt und der nicht viel auf das Gerede anderer gibt. 

Ich lande gedanklich in einer bestimmten Schublade, noch bevor ihr ein tiefgründigeres Wort mit mir gewechselt habt. Dafür reichen euch wenige Augenblicke. Denn ich bin für euch das, was ihr oberflächlich sehen möchtet. 

 

Das mag sich für Außenstehende vielleicht traurig anhören. Aber ich begrüße euer Verhalten sehr. 

Denn euer oberflächliches Denken und Handeln beschützt mich. Beschützt mich im Alltag vor euch. Vor vielen eurer Ansichten und vor eurem Halbwissen über Depressionen. 

 

Es erspart mir Sätze und Ratschläge, die ich von euch hören musste, bevor ich zum Ozean wurde:

 

  • Depressionen bildet man sich doch nur ein - ist dir das eigentlich bewusst?
  • Sag mal. Hast du vielleicht schonmal versucht - naja - damit aufzuhören? Also, nicht mehr depressiv zu sein?
  • Hey, das ist doch bloß schlechte Laune. Komm mal lieber klar. Es gibt Menschen mit echten Problemen. 
  • Therapie ist doch was für Menschen ohne Freunde und für feige Schwächlinge. 
  • Du nimmst täglich Medikamente? Du hast doch kein Krebs oder was ähnlich schlimmes. 
  • Du bist so ein schwacher Mensch, du solltest dich schämen. 
  • Hör doch auf, deine Depression als Vorwand für alles zu nutzen, auf das du keine Lust hast. 

 

Dank euch wurde ich der, der ich jetzt bin. 

Mit der Zeit ging es mir in Fleisch und Blut über und es verlangt mir kaum mehr Kraft ab. Ich lasse euch das sehen, was ihr sehen wollt. 

 

Oberflächliche Fassaden. Blaues Wasser. Sonnenschein. Wellen. 

 

 

 

 

Es kommt wirklich nicht oft vor, dass ich neue Menschen in mein Leben lasse. Der nächste Bereich des Ozeans, der betrifft daher eher Freunde, Familie und gute Bekannte. 

 

Für euch bin ich ebenfalls der Ozean. 

Ein größerer. 

Ein vollständigerer. 

 

Neben dem blauen Wasser, dem Sonnenschein und den Wellen, bin ich für euch noch mehr. 

Für euch gibt es nicht nur das Gute. Keine weichgespülte Variante der Wahrheit. 

Ihr seht auch den Abfall in mir. Die Stürme und Katastrophen. 

 

Euch nehme ich gerne so tief mit in mich hinein, wie ihr es aushaltet. So tief, bis euch beim Tauchen die Luft ausgeht und ihr hinauf müsst. Zurück zu meiner Oberfläche. Wieder und wieder. So oft ihr es wünscht. So oft ihr es braucht, um mich besser verstehen zu können. 

 

Mit einigen von euch rede ich über meine Depression. Versuche euch zu erklären, was so schwierig zu verstehen ist. Damit ihr es verstehen lernt. Damit ihr mich verstehen lernt. 

Mal erfolgreich. Mal weniger. 

Euch bin ich von Herzen unglaublich dankbar, dass ihr "Sie" als einen Teil meiner selbst akzeptiert. Ihr nehmt mich so, wie ich bin. 

Ihr gebt mir nicht das Gefühl, dass ich völlig falsch bin. Ihr akzeptiert meine Art. Meine Sensibilität. Meine Krankheit. 

 

Einige von euch kennen Seiten von mir, auf die bin ich nicht stolz. Ihr habt mich in Situationen erlebt, in denen ich niemals stecken wollte. 

Jahrelang habt ihr mich so erlebt, manche schon lange bevor ich von meiner Krankheit wusste. 

Ihr habt mich auf meinem Weg begleitet. Mir geholfen. Jeder auf seine Art. 

 

Teilweise habe ich euch erst nach dem Gröbsten getroffen - das hat euch dann einiges erspart. 

 

Eines habt ihr für mich gemeinsam. 

Ihr seid die Menschen, die ich achte und schätze. 

Menschen, die mein Leben bereichern. 

Menschen, die mir die Welt bedeuten. 

 

Aber dann gibt es halt noch den Teil des Ozeans, der uns allen verborgen bleibt. Je tiefer man dahin vorstößt, desto beklemmender wird es.

Dort herrscht Dunkelheit. Völlige Dunkelheit. Kälte.

Dort unten erhellt selbst der eigene Verstand nichts mehr und er vermag einen auch nicht mehr zu wärmen.

 

Dort lebt ein Teil von mir, den ich kaum kenne. Damals, vor gut 3 Jahren, bekam ich Besuch von dort.

Er kam aus dem Abgrund meiner selbst. Aus der Tiefe des Ozeans.

 

Angstzustände. Depression. Der Wunsch zu sterben.

 

Aus dem nichts, tauchte all dies auf. Tauchte auf und nahm mein Leben in Beschlag. Nahm mir alles. Alles, was ich so sehr liebte.

 

Leichtigkeit. Freude. Glück. Zuversicht. 

 

Das schlimmste daran war jedoch, dass das alles aus mir kam. Dass dies ein Teil von mir zu sein schien. So etwas kann man einfach nicht akzeptieren.

 

Wie soll man etwas bekämpfen, was man selber ist?!

 

Es hat mich fast mein Leben gekostet, bis ich das Prinzip verstanden hatte. Bis ich verstanden hatte, was ich zu tun hatte. Bis ich dazu bereit war, zu tun, was getan werden musste. Bis ich die nötige Kraft dazu hatte.

 

Aber ich tat es. Ich tat, was getan werden musste.

 

Heute, knapp 3 Jahre später, schaue ich auf all dies zurück. Auf meinen Kampf. Auf die Opfer. Auf meinen Weg.

 

Die Gedanken daran. Sie machen mir Angst. Sie zeigen mir, was mich wieder erwarten könnte. Was dort unten lauern könnte. Was dort lauert.

 

 

Aber diese Tiefe hat mir noch etwas anderes gezeigt. Sie hat mir gezeigt, wie stark ich bin. Was ich zu leisten vermag.

 

 

 

Ja, ich bin depressiv. Ja, ich bin krank.

 

Aber wisst ihr was? Ich möchte all den Menschen etwas sagen, die nur die Oberfläche von mir sehen und diese unglaublichen Sachen über Menschen wie mich sagen.

 

Trotz meiner Krankheit lebe ich. Ich habe Sachen geschafft, an denen viele von euch zu Grunde gegangen wären. 

 

Ja, manchmal konnte ich nicht aufstehen.

Ja, ich nahm und nehme Medikamente.

Ja, ich war in Therapie.

 

Aber ihr überseht etwas. Ich habe es geschafft. All dies habe ich geschafft, obwohl ich krank war.

 

Ich bin fast jeden Tag aufgestanden, obwohl ich all dieses Grauen ertragen musste. 

Ich zwang mich auf den Weg zur Arbeit, obwohl ich nicht einmal mehr leben wollte.

 

Und was haben fast alle meine Mitmenschen davon bemerkt? Rein gar nichts. 

 

Nun frage ich euch eines: Wer ist hier schwach?!

 

Ist es der depressive Mensch, der trotz allem kämpft? Oder ist es doch eher der Kleingeist, der Angst vor dem hat, was er nicht verstehen kann?

 

Ich lebe. Ich werde noch lange leben. Hoffentlich glücklich und zufrieden.

 

ICH. BIN. EIN. VERDAMMTER. OZEAN.