Tag X

06.01.2019

 

 

 

Wenn ich meine Augen schließe und mich ganz fest konzentriere. Ganz fest konzentriere. Dann kann ich es fast noch sehen.

Erahnen. Sogar ein bisschen spüren. 

Tief in meinem Herzen. 

 

Deine Art und Weise mich anzusehen. 

Als sei ich etwas besonderes. 

Das besonderste überhaupt in deinem Leben. 

 

Dieser Blick. Man wusste exakt, wie du mal als Kind ausgesehen haben musst. 

Diese hübschen Augen, die mich ansahen. Von unten hoch. Die scheinbar aus dem Nichts heraus leuchteten. 

Dein Mund, der sich zu diesem breiten, zufriedenen Lächeln formte. 

Deine Arme, um mich geschlungen. 

Dein Gesicht, nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. 

Dieser Blick war so pur. So ehrlich. 

Dieser Blick sagte mehr als jede Bibliothek es auszudrücken vermag. Nie habe ich Worte gelesen oder geschrieben, die dem auch nur gerecht werden könnten. Werde es wohl niemals können. 

 

Dieser Blick war mein happy place. Der Ort an dem ich wusste, dass alles möglich sein wird. Mein Ruhepool. Mein sicherer Hafen, wenn wieder einmal alles zu viel zu werden drohte. 

 

Dieser Blick war unendlich mal mehr wert als jedes „ich liebe dich“ es hätte je sein können. Nichts zuvor hat meinem Leben jemals solch einen Wert gegeben. 

 

Dieser Blick war ein Versprechen. Zukunft. Familie. All das, was ich mich kaum traute auszusprechen. Zu hoffen. 

 

Dieser Blick war alles für mich. 

 

Dieser Blick...

 

 

 

 

180 Tage ist es nun her. 

Fast. 

180 Tage, seit Tag X. 

 

Du hattest keinen Unfall. 

Du bist nicht gestorben. 

Du hast einfach nur aufgehört mich zu lieben. 

Einfach. 

Nein, das war es wohl nicht. 

Und doch ist es passiert. 

Weil das Leben manchmal so ist. 

Weil das Leben einen perversen Humor hat. 

Weil mein Leben einen perversen Humor hat. 

 

180 Tage. 

Seitdem ich gestorben bin. 

Innerlich. 

Emotional. 

 

 

180 Tage. 

Des schlimmsten Kampfes. Schlimmer als die absolute Hochzeit meiner Depression. 

180 Tage. 

Der Medikamente. Des daran gewöhnen. Des abgewöhnen. 

180 Tage. 

Um meinen Weg zurück ins Leben zu finden. Stück für Stück. 

180 Tage. 

Um verstehen zu lernen. 

Mich. 

Dich. 

Das alles. 

 

 

 

Oh, my… 

 

Du ahnst nicht, wie lange ich schon mit dem Text hier schwanger gehe. 

Wie oft ich ihn angefangen habe. Verworfen habe. 

Nicht, weil die Worte falsch waren. Nicht, weil die Worte mir fehlten. 

Einfach nur, weil es noch nicht an der Zeit war. Weil ich noch nicht bereit war, das hier zu tun. Es fühlte sich immer falsch an. 

Seit einigen Tagen tut es das nicht mehr. 

 

Um genau zu sein, seitdem ich weiß dass du wieder glücklich bist. 

Mit jemanden. Mit dir. Mit euch. 

Oh Gott. Das klingt so cheesy. Ich denke aber, das darf es auch. 

 

Denn das ist es doch, was Liebe für die meisten Menschen ausmacht. 

Dieses große Gefühl. Das, was nach dem verliebt sein entsteht. Das, was ich nur erahnen kann. Nicht, weil ich nicht lieben kann. Sondern, weil ich nicht so fühle. So, wie du. Wie die meisten Menschen. 

 

Daher hätte ich auch nie gedacht, dass  so etwas wie mit dir hätte passieren können.  Niemals hätte ich gedacht, dass ich dich ansehen würde. Dass ich es dann unumstößlich wissen würde. 

Keine Liebe auf den ersten Blick. Keine fiesen Klischees. 

Ich küsste dich uns wusste es. 

Dass ab jetzt alles besser werden würde. Dass du mein Mensch bist. 

Als hätte sich irgendwer mir zugeteilt. Als gäbe es daran nichts zu rütteln. 

 

Das gab es für mich auch nie. Egal, was bei uns passierte. 

 

Jeden einzelnen Tag unseres Lebens sah ich dich an. Egal wie sehr wir Sturköpfe uns auch dazwischen hatten. Jeden einzelnen Tag sah ich dich an und habe mich entschieden. Für dich. Für uns. 

 

 

Tag X.

 

 

Die erste Zeit nach Tag X wollte ich nichts mehr, als… ja… als zu verstehen, was es nicht zu verstehen gab. Ich wollte eine Erklärung haben. Um das Problem wissen. Es greifen und lösen. Ja, das wollte ich. 

 

Ok. Ich wollte auch weg sein. Einfach weg. Nicht mehr aufwachen. Nie mehr. 

 

Ich fiel drei Wochen lang ins bodenlose und versuchte alles. Alles, was ich verantworten konnte. Alles, was ich jemals als Bewältigungsmechanismus gelernt hatte.

Konventionelles. Unkonventionelles. 

Ich versuchte alles, um durchzuhalten. Durchzuhalten, bis die Medikamente endlich ihren Wirkspiegel aufbauten. 

 

Schon während dieser Zeit musste ich funktionieren. Musstest du funktionieren. Mussten wir funktionieren. 

 

Es mussten neue Wohnungen gesucht werden. Unsere Traumwohnung wurde gekündigt. Unser Zuhause war plötzlich keins mehr. Nicht für dich. Nicht für mich. 

 

Ich hörte keine imaginäres Kindergeschrei mehr, wenn ich die Haustüre öffnete. 

 

Ich suchte nicht mehr nach dem Mut. Nach dem perfekten Augenblick. Um dir endlich den Antrag zu machen. 

 

 

 Oh, my…

 

Wir hatten beide solch ein Glück. 

Glück, unsere Freunde zu haben. 

Glück, bei den Wohnungen. 

Ja, sogar Glück beim Umgang miteinander.  

 

Wobei der letzte Punkt meine persönliche Crux wurde. Es immer noch ist. 

 

Ich verlor meine Gefährtin. Ich verlor meine Geliebte. Doch ich wollte nicht meine beste Freundin verlieren. 

 

Nicht an den Tag X. Nicht an irgendwen. 

 

Denn das warst du drei Jahr lang für mich. Meine beste Freundin. 

Jeden noch so abstrusen Gedanken konnte ich dir anvertrauen. Alles mit dir unternehmen. 

Ich habe dir blind vertraut. Niemals diese Freundschaft hinterfragt. 

Wir waren gut als Freunde. Als Fressfreunde. Als Ausflugsfreunde. Als wir. 

Unabhängig von der Beziehung war das unsere geheime Superkraft. Zumindest sah ich das immer so. Sehe es noch immer so. 

 

 

180 Tage, nach Tag X. 

 

 

Ich bin frei. 

Von unserer Liebe. 

Ich liebe dich nicht mehr als meine Gefährtin. 

Ich liebe dich nicht mehr als meine Geliebte. 

 

Ich liebe dich aber trotzdem noch als meine Freundin. 

 

Weißt du was? 

Das fühlt sich an, als würde man eine kranke Pflanze pflegen. Eine zarte Pflanze. 

Man gibt sein Bestes. Wirklich alles, im Rahmen seiner Möglichkeiten. 

Geduld. Nährboden. Dünger. Man kümmert sich von Herzen darum…

 

Ich kann nicht einmal etwas dafür. Es ist nicht so, als hätte ich eine Wahl. 

Das bist doch du. Du. Du bist diese kranke Pflanze. Ich bin es ebenfalls. Ich. Ich bin diese kranke Pflanze. 

 

Da ist kein „wir“ mehr.

Nur ein Du.

Ein Ich.

Da wird auch kein „wir“ mehr sein. 

 

Und doch ist es mir so wichtig. Weil du und ich immer noch so viel Potenzial hat gut zu sein. Als Freunde. 

 

Auch wenn ich darum kämpfe. Auch wenn mir das wichtig ist. So habe ich doch keinen Einfluss darauf. Ich kann nur ich sein. 

 

 

180 Tage, nach Tag X

 

 

Diese 180 Tage haben mir die Scheisse aus dem Leib geprügelt. 

Irgendwann wehrt man sich nicht mehr. Man lässt es geschehen. 

Wartet, bis Tritte und Schläge aufhören. 

Wartet auf den verächtlichen Rotz, den das Leben einem zum Abschluss in das blutüberströmte Gesicht spuckt. 

Bevor es von dir ablässt. Bevor es weiter geht. 

 

Aber weißt du was, du verdammtes Leben?! Weißt du, was das gefährliche an kaputten Menschen wie mir ist?!

 

Wir haben all dies schon einmal überlebt. Wir wissen, wir schaffen das. No matter what!

 

Ich heile. Stück für Stück. Ich werde die verdammt noch mal beste Variante meiner selbst werden, die es je gab!

 

Du machst mir keine Angst mehr. 

Ich werde nächste Woche 39 Jahre alt. 

Das ist nicht mehr jung. Korrekt. Trotzdem bleibt noch viel Zeit für ein schönes Leben.

 

 

Oh, my…

 

Ich bin wirklich so weit, dass ich mich für dich freue. Für euch freue. Von Herzen. 

Mehr wollte ich nie. Dich glücklich sehen. 

Ich werde auch weiterhin darum kämpfen, dass dieses Pflänzchen der Freundschaft heilt. So lange du dies zulässt. 

Wenn du dich dazu entschließen solltest, dass es sterben soll. Dann ist es so. Ich werde dich nicht daran hindern, wenn du dich versehentlich darauf setzt. 

 

 

Weißt du aber wovor ich eine unsagbare Angst habe? Mir gefriert das Blut in den Adern bei dem Gedanken. 

 

Bei dem Gedanken daran, dass du nicht nur die erste Frau warst. Sondern auch die letzte gewesen sein könntest. 

 

Die letzte Frau, die mich so angeschaut hat. 

Die letzte Frau, die in mir das gesehen hat, was du gesehen hast. 

Die letzte Frau, die mich geliebt hat. 

 

 

Ich habe so eine verschissene Angst davor, nie wieder so angeschaut zu werden. Nie wieder.