Moin, zukünftiger Lieblingsmensch. 

 

Das hier war nie als romantisches Werk geplant. 

Das hier war nie als bequemes Werk geplant. 

Das hier ist ehrlich. 

 

Ehrlich zu sich selber zu sein. 

Die Königsdisziplin im Leben. Sehr unangenehme Sache. 

Ehrlich zu dir zu sein. 

Die einzig mögliche Vorgehensweise. Wenn du mich wirklich kennenlernen sollst. 

 

 

Erinnerst du dich daran, wie ich dir im letzten Brief über meinen moralischen Kompass erzählt habe?

 

Um dir etwas über dieses Thema zu erklären. Muss ich einen ziemlichen Sprung in die Vergangenheit machen. Mich von dort an voran arbeiten. 

Leider führt uns das Ganze anfangs auch noch zu dem Thema Religion. 

Da musst du jetzt wohl durch. 

 

 

Von Jugend an wollte er nicht nach Norden zeigen. Nein. 

 

 

Meine Jehova Jugend hat mich sehr früh alles mögliche hinterfragen lassen. 

Das, was mir die Welt als ihre Werte verkaufen wollte. 

Das, was mir von der Welt als gut und schlecht verkauft wurde. 

Das, was die Allgemeinheit als gut und schlecht definierte. 

 

 

Ganz speziell faszinierte mich dabei die katholische Kirche. Etwas sehr präsentes in dieser Welt. 

Das Interesse kam nicht meiner Jehova Erziehung wegen. 

Mir kam das Konzept einfach ziemlich fragwürdig vor. 

Fragen. 

Da waren viele Fragen. 

Antworten. 

Da gab es einiges zu lesen. 

Puh. 

 

Wahrscheinlich hinterfragte ich ihn damals zum ersten Mal. 

Den moralischen Kompass. 

Den, der meisten Menschen. 

 

Mir wurde klar, das Moral etwas ist... hmm.. was sehr flexibel sein kann. 

Mir wurde klar, dass die Allgemeinheit nicht an Fakten interessiert ist. 

Mir wurde klar, das Wahrheit nicht gehört werden möchte. 

Wenn sie unangenehm ist. Wenn sie Einschnitte in das bisher gewohnte bedeuten würde. 

 

Solange Menschen so leben konnten. 

So, wie sie es gerne mochten. 

Solange Menschen ein komplexes Regelwerk vorgesetzt bekamen. 

Das sie weitestgehend nicht einhalten mussten. 

Solange es ein System aus vermeintlichen geben und nehmen war. 

War keiner an dem offensichtlichen interessiert. 

Aber sehr wohl daran, sich Christ zu nennen.

Dazuzugehören. 

Aber sehr wohl daran, von moralischen Werten zu reden.

Sie öffentlich hoch zu halten. 

 

Moral im biblischen Sinne, so schien es mir, war nur ein Konstrukt um eigenes Handeln rechtfertigen zu können. 

 

In diesem Fall ein Konstrukt, was von einem der schlimmsten Lügner und Verbrecher der Menschheitsgeschichte aufgestellt wurde. 

Missionieren, zur Not mit Gewalt. 

Kriege im Namen Gottes. 

Die brutalste, systematische Folter, die jemals belegt wurde. 

Sexueller Missbrauch, der in seinen Dimensionen beispiellos ist. 

 

Mit dem richtigen moralischen Grundsätzen. Von einem selbst herausgegeben. Schafft man es verehrt zu werden. 

Anstatt als permanenter „Hitler“ der Menschheitsgeschichte zu gelten. 

Interessant. 

 

Aber hey. 

Dafür bekam man doch einige frei erfundene oder geklaute, heidnische Feiertage. Als Dank.

Sogar frisch aufgehübscht. 

Dafür bekam man doch immer wieder Etappen, die man feiern konnte.

An denen man Geschenke erhielt. 

Dafür bekam man doch die Beichte angeboten. Ein schönes Konzept. 

Lossagung für Verstöße gegen ein Regelwerk, an das sich eh niemand zu halten beabsichtigte. 

Dafür bezahlen Menschen freiwillig ihren Obolus.

Um eine der verlogensten Institutionen der Welt in ihrer Macht zu stärken. 

All das kann einem doch auch mal die Augen verschließen lassen.

Vor der Realität. 

 

Touché, liebe Kirche. Ich verneige mich vor Bewunderung.

 

 

Ich befand mich damals in einem Alter. 

Einem, in dem erste eigene Erkenntnisse nahezu unbezahlbar sind. 

Einem, in dem mir klar wurde, dass man sich nicht blind an den Worten anderer orientieren sollte.

Egal wessen Worte es sind. 

Es war dieses Alter, in dem ich mich nicht mehr wohl fühlte mit all diesen beigebrachten Werten und Wertvorstellungen. 

Ich musste damals erkennen, dass „bis das der Tod euch scheidet“ auch funktioniert. Wenn beide Ehepartner noch leben. 

Das dürfte so ungefähr das Alter gewesen sein. 

Das Alter, in dem ich meiner Mutter mitteilte. Dass ich nicht mehr mit zu den Zeugen Jehovas wollte. 

 

Mein Bruch mit der Religion im allgemeinen. 

Mein Bruch mit etwas, was Menschen als plausiblen Grund akzeptieren, um Andersdenkende zu unterdrücken und im Zweifelsfall zu töten. 

 

Dabei verstehe ich den Wunsch an etwas glauben zu wollen. 

Dazu braucht es aber keine Kirche. 

Keine Regeln. 

Glaube und Hoffnung liegen in dir. 

Du benötigst nichts anderes.

Als dich selber. 

 

 

Moral, die. 

 

Gesamtheit von ethisch-sittlichen Normen, Grundsätzen, Werten, die das zwischenmenschliche Verhalten einer Gesellschaft regulieren, die von ihr als verbindlich akzeptiert werden. 

 

 

Ich wurde dann wohl irgendwann meine eigene Gesellschaft. 

Fand für mich Werte. 

An denen ich mich orientieren konnte. 

Die mein Leben regulierten. 

 

 

Verstehe mich bitte nicht falsch, zukünftiger Lieblingsmensch. 

 

Ich bin nicht der Widerstand. 

Ich möchte nichts verbessern. 

Ich lehne es einfach ab mich an jede Regel zu halten. Die mir Leute diktieren. 

Ohne diese zu hinterfragen. 

 

Das macht mich zu keinem besseren Menschen. 

Nein, bestimmt nicht. 

Ich bin kein guter Mensch. 

Nicht einmal nach meinen eigenen moralischen Werten. 

 

 

 

Meine erste Freundin. 

Habe ich betrogen. 

Nicht, weil ich sie nicht mehr liebte. Es geschah aus naiver Neugierde. 

Dieses „was wäre wenn Männchen“, was manchmal im Kopf rumtobt. Es flüsterte mir zu. 

Wäre ich mit etwas anderem glücklicher? 

Wäre der Sex noch faszinierender?

Wäre das Gefühl im Herzen noch intensiver?

 

Ich habe es sehr bereut. 

Habe das Sterben der Liebe in zwei wunderschönen Augen mit angesehen. In Echtzeit. 

Während ich ihr erzählte, wie ich sie hintergangen habe. 

Das war sehr bitter.

 

Und das war nicht das letzte Mal, dass ich dies tat. 

 

 

 

Lügen und Geld. 

Ich habe in meinem Leben sehr viel gelogen. 

Ein Laster des Einzelhandels. 

Dort lernt man dies in faszinierender Perfektion. 

In einem Verkaufsgespräch mag dies manchmal angebracht sein. Es geht ja um Verkauf. 

Das aus seinem weiteren Leben herauszuhalten. Das ist die Kunst. 

Eine nicht immer einfache. Aber durchaus umsetzbare. 

Kunst.

 

Damals wurde mir neben der Einfachheit der Lüge noch etwas beigebracht.

Geld besitzt eine eigene Moral. 

Eine, die größer ist, als die allgemein anerkannte. Moral. 

Ab Summe X. 

Verliert nahezu jeder auch das letzte bisschen moralischen Rückhalt. 

Das mit anzusehen. 

Eine weitere, sehr wichtige Lektion. 

In meinem Leben. 

 

 

 

 

Dann kam die Depression. 

Mit ihr ein heilloses Chaos. 

In der Therapie lernte ich zu reflektieren. Zu sortieren. Neu zu bewerten. 

 

Ich lernte zwei simple Sachen. 

 

Die größten Enttäuschungen resultieren aus der eigenen Erwartungshaltung. 

Nicht aus den Taten der Menschen. 

 

Moral besiegt selten den eigenen Egoismus. 

 

Das waren wichtige Erkenntnisse. 

Es half mir, vieles noch einmal anders zu sehen. 

Auch die Moral. 

War es vielleicht gar nicht so tragisch, dass mein moralischer Kompass nicht nach Norden zeigte?

 

 

 

Sachen zu Wissen. 

Bedeutet noch lange nicht nach eben diesem Wissen zu handeln. 

Das hatten wir ja schon bei der Religion. 

Das hatten wir ja schon beim Fremdgehen. 

Wissen ist ein Leitfaden. Eine dünne Schnur. 

Wie wir diesen anwenden. Ob wir diesem folgen.

Das entscheidet jeder für sich. 

 

 

 

Die eigene Erwartungshaltung. Die eigenen Wünsche. 

Beides ziemliche mächtige Sachen. 

Das durfte ich letztes Jahr feststellen. 

 

Ende 2018 stolperte ich in eine Situation. Eine, die ziemlich Hollywood reif war. 

Nach gut 15 Jahren Funkstille trat eine Person in mein Leben. 

Erneut. 

Meine zweite Freundin. 

 

Damals. Bonn. 

Zwei verlorene Seelen. 

Viel Alkohol. Viel Party. Wenig Vernunft. Sex und Leidenschaft fürs Essen. 

Unsere gemeinsame Basis. Für über drei Jahre. 

Die uns jegliche Vernunft ausblenden lies. 

 

Wir trafen uns wieder. 

Beide sichtlich gereift. Beide mit gut 15 Jahren mehr Lebenserfahrung. 

Wir verliebten uns. 

Ineinander?

Wir verliebten uns. 

In die Vorstellung, wie wunderbar solche eine Liebesgeschichte sein könnte?

Wir führten eine Fernbeziehung. Bis. 

Bis ich merkte, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. 

Mit mir. Mit all dem. 

Ich verlor die Lust. An mir. An Sexualität. An all dem. 

Stattdessen zog Misstrauen ein. Wegen mir. 

Wegen meiner fehlenden Emotion. 

Wegen meinen Unvermögen Dinge frühzeitig zu benennen. Dinge, die in meinem blinden Spektrum der Emotion leben. 

 

Dann verlor ich fast meinen Vater. 

Ein Welle an Emotion überrollte mich. Hinterließ mich ratlos. 

Voller Schmerz. 

Mit dem unbestimmten Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. 

Mit mir. Mit meinem Leben.

 

Wie fast jeder Mensch. 

Neige auch ich dazu beschissene Entscheidungen zu treffen. 

Manchmal.  

Ich traf eine Entscheidung. Eine moralisch höchst verwerfliche. 

Ich ertränkte meinen Schmerz und alles andere in den Schoß einer anderen Frau. 

Eine ziemlich beschissene Entscheidung. 

Von der ich ihr berichtete.

Die dazu führte, dass ich etwas grundlegendes Verstand.

Über das vergangene Jahr. 

Ich mag derjenige gewesen sein, der mit seinen Taten den Schlussstrich zog. 

Einen sehr asozialen. Schlussstrich. 

 

Doch waren wir es beide. Die alles zerstörten. 

Stück für Stück.

Haben wir uns zerstört. 

Mit tausend kleinen Taten. 

Für die wir uns mit großen Gesten entschuldigten. 

Mit fehlendem Vertrauen. 

Das wir uns schön redeten. 

Mit dem Blick in eine erträumte Zukunft. 

Anstatt in der Gegenwart zu verstehen. Dass wir nur verliebt waren. 

In die Idee einer Liebe zwischen uns beiden. 

 

 

 

Mein zukünftiger Lieblingsmensch. Wenn du bis hierhin gelesen hast, dann stellt sich dir bestimmt die ein oder andere Frage. 

 

Warum erzählt er mir solche Sachen?  

Vor allem anderen, warum erzählt er mir von seiner Untreue?

 

 

Ich müsste all das nicht tun. 

Korrekt. 

Ich könnte dafür sorgen, dass du all das nicht erfährst. 

Mit Leichtigkeit. 

Ich könnte Ausreden finden. Falls du es doch einmal herausfindest. 

Die mich in einem guten Licht dastehen lassen. 

Ich könnte großzügig aussparen. Teile meines Lebens. Meines Handelns. 

Ohne dass du es merken würdest. 

 

Ja, das könnte ich. 

 

Das entspricht aber nicht meinem Naturell. Meinem moralischen Werten ebenfalls nicht. 

 

Sich für seine Taten bestmöglich gerade machen. 

Das ist etwas, an das ich glaube. 

Das ist etwas, was ich versuche. 

 

Dazu gehört auch das hier. 

Ich möchte keine geschöntes Bild von mir zeichnen. 

Ich bin die Summe meines Handelns. 

Eines Handelns, was nicht immer angemessen war. 

Das bin ich. 

 

 

Mein zukünftiger Lieblingsmensch. 

Ein einfacher Mensch war ich noch nie. 

Ein einfacher Mensch werde ich niemals sein. 

Eine Herausforderung bin ich. Ja.

Das ist mir durchaus bewusst. 

 

Vor allem anderen bin ich ich selber. 

Eine Person, deren positive Eigenschaften die negativen bei weitem aufwiegen. 

Du wirst schon sehen. 

 

 

 

Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wer du bist. 

Ich freue mich schon darauf. 

 

 

Bis hoffentlich bald.