Das Leben ist eins der schwersten

28.04.2019

 

 

„Das Leben ist eines der schwersten.“ Das sagte mein Opa oft. 

„Da kommst du nicht mehr lebend raus“. Das war sein Resümee. 

 

Wie oft ich doch an diese Worte gedacht habe. Wenn es schwierig wurde. Zu schwierig. Wenn es undenkbar war, dass es jemals wieder besser werden könnte. 

Dachte über sie nach, wenn heißes Wasser meinen Körper umspielte. Hitze und Schmerz eine Symbiose bildeten. 

Dachte darüber nach, wenn fast alles in mir meinen Verstand  anbettelte. 

Diesen erlösenden Schnitt zu setzen. 

15 Zentimeter Schmerz. 

Ewige Stille als Belohnung. 

So verlockend. So verdammt verlockend. 

 

 

Damals

 

Damals verstand ich vieles nicht. Sah vieles anders. Anders als heute. 

Einfach, weil es so schlüssig schien. 

Mein Verstand. Mein verwirrter Verstand. Er bot mir die verlockendsten Optionen an. Die scheinbar einfachsten. Sinnvollsten.

Einfach etwas Mut. Ein kurzer Moment nur. Wenige Sekunden. 

 

Wenige Sekunden Mut und all dieser Schmerz und diese Demütigung wären vorbei. 

Niemand würde mich jemals wieder als Geisteskrank titulieren. Als falsch. 

Niemand würde mich mehr verständnislos anschauen. Weil ich doch nur klarkommen müsse. Niemand würde mich mehr als Ballast empfinden müssen. 

 

Ich. 

Ich würde mein Leben nicht mehr als Ballast empfinden müssen. 

Nie mehr. 

 

 

 

Heute

 

Heißes Wasser und Schmerz umspielen meinen Körper. Bilden eine Symbiose. Hüllen mich fast vollkommen ein. 

Ich lasse es zu. 

Habe gelernt es zuzulassen. 

Habe gelernt es zu akzeptieren. 

 

Von Zeit zu Zeit überkommt mich einfach dieses beklemmende Gefühl. Diese Schwere. Dieses Gefühl, vollkommen alleine zu sein. Das Gefühl, dass das Leben einem so viel abverlangt. Zu viel. Obwohl nichts merkbares vorgefallen ist. Obwohl man nicht alleine ist. Man geliebt wird. 

 

Ich bin darüber nicht sauer. Nicht traurig. Nicht beängstigt. 

 

Nicht mehr. Mit der Zeit lernt man. Selbst ich. Ich habe gelernt. Habe gelernt, dass der Verstand ein mächtiger Gegner ist. Habe gelernt, dass Herz und Mut ihn dennoch in Schach halten können. 

Der Weg dahin war nicht schön. War nicht leicht. 

 

Den eigenen Verstand bekämpfen. Der bloße Gedanke daran ist erfüllt mit Hohn. 

Dieser verdammte Verstand. 

Er existiert, seitdem ich existiere. 

Er lenkt mich. Ich lenke ihn. Wir lenken uns. 

Wir sind Eins. 

Im gleichen Moment, wo ich etwas weiß, weiß er es auch. Egal was ich gegen ihn unternehmen möchte. 

Er weiß es. 

Kennt meinen Plan. Ohne dass ich seinen kenne. Obwohl ich ihn kennen müsste. Denn er ist ich. Ich bin er. 

Wenn ich ehrlich sein soll. Dann bleibt eigentlich nur ein Resümee. Ich habe keine Ahnung, wie das funktioniert. Dieser Kampf.

Herz. Mut. Verstand. Wie ich diesen Kampf immer wieder gewinne. Wie Mut und Herz ihn gewinnen. 

 

 

Dafür weiß ich eines. Opas Weisheiten helfen dabei. Mir. Herz. Mut.

Opas Weisheiten sind vielschichtig.

Was sich wie eine Anklage an das Leben anhört. Das ist auch eine Liebeserklärung an das Leben. 

Gott, habe ich ihn geliebt. Er war ein so guter Mensch. Und das, obwohl. 

 

Obwohl. 

 

Er hätte allen Grund gehabt das Leben mit Hass zu strafen. Ihm mit Bitterkeit gegenüber zu treten. Allen Grund gehabt zu zerbrechen. An dem Leben. An seinem Verstand. Doch er tat es nicht. Denn tief in ihm verinnerlichte er etwas, was ich noch zu lernen hatte.

 

Er war im Krieg.

Er hat geholfen Menschen zu töten.

Vielleicht sogar selbst welche getötet.

Er war in Kriegsgefangenschaft.

Hat gehungert.

Wurde geschändet.

Körperlich.

Psychisch. 

 

Er hat eine Familie gezeugt. Mit der Liebe seines Lebens.

Mit der Liebe seines Lebens, die einen Schlaganfall erlitt.

Mit der Liebe seines Lebens, die er danach jahrelang liebevoll unterstützte.

Sein Bestes gab, damit sie und seine Kinder ein schönes Leben hatten. 

Mit der Liebe seines Lebens, die er schließlich an den Krebs verlor. 

 

Er lebte danach noch zwanzig Jahre alleine. 

Weil sie seine Frau war. Meine Oma.

Weil es niemand anders jemals wieder werden konnte. 

 

Mit all dem lebte er. Verlor dabei nicht den Mut. Die Freude. Die Zuversicht.

Niemals mehr in meinem Leben habe ich einen so starken Menschen getroffen.

Niemals. 

 

 

„Das Leben ist eines der schwersten.“ Das sagte mein Opa oft. 

„Da kommst du nicht mehr lebend raus“. Das war sein Resümee. 

 

 

 

 

Eines ist mir mit den Jahren klar geworden. Rechtzeitig. Zum Glück. 

Egal wie schlimm es scheint. Wie schlimm es ist. Wie schlimm es sich anfühlt. 

Es gibt etwas. Etwas in mir. Etwas. 

Etwas, was den Verstand in Schach halten kann. Seine bösen Gedanken. Seine vermeintlichen Lösungsvorschläge. Etwas, was größer ist.

Als alles. Alles Schlechte. Alles Leid. Egal wie unvorstellbar es sein mag. 

 

Ich kann es nicht benennen. Weiß nicht, ob es einen Namen gibt. Dafür. 

Für das, was entsteht. 

Entsteht, wenn Herz und Mut aufeinander treffen. Sich vereinen. Verschmelzen. 

In mir. 

Wenn ich es zulasse. Mich darauf einlasse. 

Was auch immer dies ist. Es besiegt den Verstand. Für den Moment. Wenn es wirklich nötig ist. Legt sich wie ein Schutzfilm um ihn. Schützt mich vor ihm. Beschwichtigt ihn. So lange es nötig ist.

 

Mit den Jahren habe ich gelernt. 

 

Zu vertrauen. Darauf. Darauf, dass es wieder gut wird. Weil es so ist. So sein muss. Nichts anderes akzeptabel ist. 

 

Also seid mir willkommen. Hitze des Wassers. Gemischt. Mit Schmerz. 

Seid mir willkommen und genießt eure wenigen Augenblicke. Genießt eure Augenblicke. Bis es mir wieder klar wird:

 

 

„Das Leben ist eines der schwersten.“ Das sagte mein Opa oft. 

 

„Da kommst du nicht mehr lebend raus“. Das war sein Resümee.