Moin zukünftiger Lieblingsmensch,

 

Mich würde mal interessieren, ob du wirklich weist wer du bist. Ich meine so richtig. 

Denn falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte, sehr viele Menschen wissen das nicht. 

 

Rauszufinden wer ich bin. Das hat mich ganz schön viel Zeit gekostet. 

Oft hat man ja ein Bild von sich im Kopf. Vor Augen. 

You know?

Man versucht sich selbst in die möglichst schmeichelhafteste Schublade zu stecken, die auf Zehenspitzen zu erreichen ist. Liegt wohl in der Natur der Dinge. 

Nehme ich mal an. 

 

Ich meine, schau dir doch mal unser aller Leben an. 

Möglichst toll. Möglichst aufregend. Möglichst vielseitig. Möglichst lässig. 

Möglichst weltoffen. 

So sehen die Menschen sich gerne. So beschreiben sie sich gerne. 

Facettenreich möchte man sein. 

Facettenreich möchte man wahrgenommen werden. 

 

Wenn wir mal ehrlich sind, ist der Großteil der Menschen ziemlich weit davon entfernt. 

Man selber zu sein. 

 

 

 

Schon als Kind habe ich mich oft gefragt, warum Menschen so unbedingt anderen Menschen gefallen möchten. Ganz besonders diejenigen, die das Gegenteil von sich behaupten. Diese bewusst anders agierenden, oft durch deren Art provozierenden Menschen. 

Wo andere deren Modegeschmack bewunderten. Deren luxuriösen Besitz. Deren Geschichten aus dem Urlaub. Deren rebellische Art. 

Da dachte ich mir immer nur, wie traurig ich diese Menschen finde. 

 

Den Gedankengang von damals hätte ich mal mit in meine Teenagerzeit retten sollen. 

Puh. 

 

Wenn ich mich rückwirkend betrachte, dann fand ich die Zeit zwischen 15 und 20 am schlimmsten. Also, dies war eine sehr fragwürdige Zeit. Für einen unfertigen und leicht verletzbaren Menschen. Das meine ich damit. 

Das mit der Scheidung war nicht so tragisch. Das wir wenig Geld hatten, auch nicht. 

Aber. 

Damals habe ich zum ersten Mal verstanden, dass es „die“ und „mich“ gibt. 

Die. 

Die waren schön. Hatten oft die neuesten Sachen. Waren in der körperlichen Entwicklung weiter. 

Ich. 

War wirklich nicht attraktiv. So rein objektiv gesehen. Mein Kleidungsstil war keinem Trend zuzuordnen. Das meine ich nicht positiv. Ich war zu klein. Zu schmächtig. Zu wenig. 

Die. 

Tranken Alkohol. Fuhren kleine Crossmaschinen. Coole Vespas. Später dann prollige Autos. 

Ich. 

Trank das erste komplette Bier mit 18. Gemischt mit Multivitaminsaft, weil mir der Geschmack zu herb war. Ich fuhr Fahrrad. Dann mal ein bis zwei Jahre Mofa. Dann wieder nur Fahrrad. 

Die. 

Hatten Freundinnen. Knutschten. Hatten Sex. 

Ich. 

Hatte nichts davon. Meinen ersten Kuss erhielt ich mit 16 von einem derbe besoffenen Mädel, das mich niedlich fand. Biergeruch und eine Kotzfahne dominierten dieses Erlebnis. Beides nicht von mir ausgehend. 

Dann kam fast vier Jahre lang fast nichts mehr. Ok. Vereinzelt mal ein Kuss. 

Ich war wirklich zu wenig attraktiv für das Weltbild der anderen. 

 

Erst mit 20 änderte sich all dies. 

Zumindest die körperliche Entwicklung und das sexuelle Interesse der Frauen für meine Person. Und der Alkohol schmeckte auch besser. 

Ich wusste weder wer ich bin, noch was ich mit mir anfangen sollte. 

Also Autopilot rein und mehr als ein Jahrzehnt mitnehmen was ich für gut hielt. 

Aber was wusste ich schon, was gut für mich ist?

 

 

„You know nothing, Jon Snow.“

 

Korrekt. Ich wusste nichts und verdrängte jedes Warnsignal. Bis ich eines Tages in Köln stand. 

Auf dem Bürgersteig, mitten im Trubel der Südstadt. Tränen in den Augen. In der Hand ein sorgsam verschlossener Umschlag. 

Er enthielt den Wegweiser für mein zukünftiges Leben. 

Meine Anamnese. 

 

Mittelschwere Depression. Passiver Sterbewunsch. 

 

Das war von diesem Augenblick an ich. 

Diese Anamnese prägte fortan mein Leben. 

Das war der Beginn meines bis dato anstrengendsten Lebensabschnitts. 

Der Weg zu mir selbst. 

 

 

 

Gerade liege ich in der Badewanne und schreibe dir. 

Zwischendurch habe ich einen „Scheunenfund“ aus meinen analogen Archiven gepostet. Auf Instagram. 

Einer Plattform die meine Gedanken unweigerlich an den Anfang dieses Briefs katapultiert. 

 

Instagram. Tik Tok. Facebook. Snapchat. 

 

Der seit Jahren existierende Beweis dafür, dass Menschen kein Maß kennen. 

Es ist mit diesen Plattformen ähnlich wie mit vielem in der menschlichen Entwicklungsgeschichte. 

Gut erdacht. Dann verselbstständigt. Dann außer Kontrolle. 

 

In etwa so, wie damals mit Messern, Pfeil und Bogen. 

Praktische Hilfsmittel für das Leben. 

Dann bald völlig zweckentfremdet von Menschen. Und Schwups. Weiterentwickelt und dem Fortschritt geopfert, bis wir bei Atomwaffen und biologischen Kampfstoffen angekommen sind. 

 

Wir wissen wirklich nicht, wann genug ist. 

 

 

Ich denke man braucht nicht in einer Großstadt zu leben, um deren Auswirkungen zu sehen. 

Irgendwo wird ein leicht beeinflussbarer Mensch gerade einen Tik Tok Challenge Scheiss durchführen. Oder einen Crazy Tik Tok Tanz mit Lyp Sync?

Ganz in der Nähe. Bestimmt sogar. 

 

Irgendwo in der Wohnung neben euch schminkt sich gerade ein Mädchen. 

Zieht sich schön an. Setzt sich vor das LED Ringlicht und macht 132 Fotos von sich. 

Um eines zu Tode zu bearbeiten und zu den anderen 376 Selfies einzureihen. 

Bevor sie sich abschminkt und einsam in ihrem Zimmer durch Insta scrollt und sich wünscht dazuzugehören. 

 

Dieser Kram zerstört langsam aber sicher jeden Nutzer, der nicht extrem mit sich im reinen ist. 

Ist. 

Nicht denkt es zu sein. Das ist ein meilenweiter Unterschied. 

 

Menschen. Vor allem junge Menschen. 

Sie denken, dass das Leben so aussehen muss. So, wie ihre Idole es dort vorleben. 

Aussehen. Trends. Status. Reisen. Lifestyle. 

 

Ich gestehe gut 10 Prozent der Menschen auf Instagram zu, dass der Content deren gelebtes Leben und Träume darstellt. Quasi keep it real und seine Freunde. 

 

Der Rest? 

Hilflose Seelen, die keine Idee haben wer sie sind und versuchen einen Trend zu melken. Sich darzustellen. Möglichst gut zu kopieren. 

Nur wird eine Kopie niemals das Original sein können. 

 

Das Original ist authentisch und entspringt einem Menschen der nicht kopiert werden kann. Oder dies gar möchte. 

Denn wenn er sich auf solch einer Plattform rumtreibt, dann wird auch er irgendwie beschädigt sein. Oder es gewesen sein. Und schätzt es wahrscheinlich weniger, dass er sinnlos kopiert wird. 

Wahrscheinlich lebt dieser crazy Van Life Dude in seinem Wohnmobil, weil er den Wahnsinn dieser Welt nicht mehr ausgehalten hat und er einem Beruf nachgeht, den er als Nomade ausüben kann. 

Vielleicht um zu heilen und zu sich zu finden. Um etwas zu verarbeiten.

Es ist ein toller Zufall, dass er durch die sozialen Medien einen Zugewinn einfahren kann und sein Leben so bestreitet. 

 

Er tut dies nicht, um Mandy und Kevin zu inspirieren, sich einen verdammten Van auszubauen. Damit die beiden sich fancy inszenieren können. 

Im Sommer, in ihrem 66 Grad heißen Bus. Vor sich hin siechend, aber zufrieden mit den Reaktionen der Follower. 

 

Das große Fitnessvorbild hat seinen Account wahrscheinlich niemals angefangen, um jemanden zu inspirieren. 

Es ist wahrscheinlicher, dass diese Person traurig und unzufrieden war. Dann suchte sie die Aufmerksamkeit anderer in der Onlinewelt. Es soll ja motivieren, wenn man seinen Abnehmerfolg öffentlich begleiten lässt. 

Irgendwann kam dann der Erfolg. Mit dem kam ein neues Selbstbewusstsein. Mit dem kam Bestätigung, Werbepartner und Business. 

Und irgendwann kaufen ihre Follower die Produkte dieser Person, weil man wie sie sein möchte. 

Aber hey, kein Grund neidisch auf den Erfolg zu sein. Die Follower sind nicht so reich wie sie. Aber mindestens genau so kaputt. 

Ist doch auch was, oder?

Sonst würde man sein Idol ja nicht öffentlich verunglimpfen, wenn das Äußere mal nicht mehr dem Ideal entspricht. 

 

 

Das exakt gleiche gilt für die zahlreichen Bodypositivity und Feminismus Vorbilder. 

Die meisten ziehen mehr Nutzen aus den Followern, als umgekehrt. Ohne die wären sie nämlich nichts besonderes. 

Das Frauen ausgebeutet werden und ganze Unternehmenszweige auf der herrschenden Unsicherheit basieren, das ist ja wohl nichts Neues. Die Unzufriedenheit darüber ebenfalls nicht. Die Tatsache, dass der Großteil der Frauen diesen Wahnsinn mitmacht, anstatt ihn zu beenden? 

Ebenfalls nichts Neues. Nö. 

Neu ist es aber zu fancy Läden und Labels zu wechseln - die ebenfalls Geld verdienen wollen und Unsicherheit nur umschichten und neu aufbereiten. 

Aber die haben ja jetzt Girl Power und wollen nur euer Bestes. 

Sicher. 

Oder was bringt es einem persönlich, dass die Insta Uschi  überall Vagina-Sticker aufklebt, sich nicht mehr die Achseln rasiert und ihren fast nackten Körper in den Medien präsentiert? 

Man fühlt sich dadurch bestärkt? Aha. Inwiefern?

Aber ok. Das soll ja so. 

Dann folgt man am besten auch noch deren anderen Projekten, kauft deren Kram und kommt nicht auf die Idee zu verstehen, dass diese Vorbilder vor allem zweierlei wollen. 

Reichweite und euer Geld. 

 

 

Seit Jahren ist es normal, dass man seinem Gesicht Snapchat- und Insta Filter aufsetzt. Weil dies schöner sei, als das eigene Gesicht. 

Heisst das aufsetzen? Ich bin unsicher. 

Warum zur Hölle wird diese Perversität nicht abgesetzt? 

Warum boykottiert man das nicht?

Ich denke die Antwort ist simpel. 

Weil keiner mehr weiß wer er ist und niemand mehr seinen individuellen Wert erkennt. Man möchte lieber uniform sein und dazugehören. 

Welche kranke Scheisse. 

 

 

 

 

Aber wer bin ich nun, mein zukünftiger Lieblingsmensch?

 

 

Ich bin ein Mensch der unglaublich unperfekt ist. 

Der ständig mit seinem Geist kämpft. Sich aber weigert den Krieg verloren zu geben, nur weil er ab und zu eine Schlacht verliert. 

 

Ich habe oft Angst vor Verbindlichkeit. Einfach weil ich Angst habe zu enttäuschen. Mich. Dich. Andere wichtige Personen. 

 

Ich bin nicht besonders intelligent, denn ich weiß bei weitem nicht alles was du mir unterstellst zu wissen. Ich kann mein Wissen nur halbwegs gut einbringen und so durch die Welt kommen. Bei vielen simplen Sachen bin ich jedoch aufgeschmissen. 

 

Ich bin oft sehr gleichgültig. Aus dem richtigen Blickwinkel schaut das oft wie Selbstbewusstsein aus. Ich weiß. Das ist es aber nicht. 

Ich taxiere Menschen, sortiere sie ein und entscheide mich ziemlich oft dafür, dass mir ihr ganzes Sein völlig gleichgültig ist. Weil ich ihnen einfach keine Bedeutung beimesse. Weil ich sie und vor allem deren Meinung nicht benötige, um zufrieden zu sein. 

 

Ich bin oft voller Scham, weil ich wichtige Menschen betrogen habe. Weil der Drang nach Bestätigung und Bewunderung wichtiger war als der Wunsch einen wichtigen Menschen mit Respekt zu behandeln. 

 

Ich finde meinen Körper wirklich nicht schön. So gar nicht. Bin deswegen oft unsicher gewesen und bin es noch immer manchmal. 

Mein Unvermögen mich richtig gut zu ernähren und der fehlende Wille Sport zu treiben beschämen mich oft. 

 

Da gibt es noch so viel mehr was ich bin... das alles aufzuzählen würde hier aber den Rahmen sprengen. 

 

 

 

Ach, ich mag mich trotzdem. 

Ganz gerne sogar. 

Denn als ich diesen furchtbar langen Weg gegangen bin. Den Weg zu mir selbst. 

Habe ich festgestellt, dass ich vieles an mir habe, was ich mag. 

 

Sich selbst zu finden. Stück für Stück. 

Funktioniert meiner Meinung nach nur, wenn man andere nicht zu wichtig nimmt. Niemand wir euch jemals das geben können, was ihr euch selbst geben könnt. 

Das zu erwartende Glück ist von einem selbst abhängig, nicht von irgendjemand anderem. 

Das muss man erstmal verstehen. 

Dann ist man auch irgendwann bereit sich selbst zu vergeben. All das, was man sich und anderen angetan hat. 

Wenn man sich endlich vergibt, dann kann man irgendwann wieder anfangen sich zu mögen. 

Wenn man Teile von sich mag, dann kann man sich viel leichter einen Wert zuschreiben. Wenn man all dies lange genug kultiviert. 

Dann hat man irgendwann sein „ich“ lieb. Das ist ne schöne Sache. 

 

 

Wichtig zu verstehen ist meiner Meinung nach folgendes.

Du musst nicht perfekt sein. Denn niemand ist perfekt. 

Vor allem nicht diese menschlich oder charakterlich gescheiterten Menschen, die du dir jeden Tag auf deinem Social Media anschaust. Würden sie nicht von dem Ganzen profitieren, dann würden sie dort nicht so viel Aufwand betreiben. 

Simple as that. 

 

 

Lieber zukünftiger Lieblingsmensch, ich hoffe du verstehst das ganze Chaos hier irgendwie. Die Message?

 

Du bist wichtig. 

Die Menschen die du liebst und die dir Familie geworden sind sind wichtig. 

Scheiss auf die Meinung der anderen.

 

 

Sing it to them Jay!

 

“If you're having mental problems I feel bad for you son. 

I got ninety-nine problems but their bullshit opinion ain't one. “